Dienstag, 21. August 2012

Der Glücksfaktor: Warum die Piraten lieber würfeln statt nichtwählen

Es geht um Liquid Feedback - eine Software, die immer wieder zu kontroversen Debatten führt.

Einige Kritikpunkte finden sich z.B. in dem äußerst spannenden Post von streetdogg: "The Tale of Liquid Feedback". Diskutiert wird hier unter anderem die "Transitivität" der Delegation. Transiwas? Transitivität bedeutet, dass Stimmen beliebig oft weiter delegiert werden können, was in der Praxis häufig zu Konzentrationen von bis zu 100 Stimmen bei einzelnen Piraten führt und die Abstimmungen sehr spürbaren Schwankungen unterwirft (100 Stimmen entsprechen im Bundes-LQFB ca. 10% der Grundgesamtheit einer Themenkategorie).

Streetdogg weist darauf hin, dass es äußerst fraglich ist, ob der Wille eines stimmberechtigten Piraten auch nach x-facher Delegation noch "erhalten" bleibt. Werden die Stimmgewichte also überhaupt im Interesse der Delegierenden eingesetzt, oder führt die Mehrfachdelegation zu einer Quasi-Zufälligkeit, weil die inhaltliche Übereinstimmung mit dem Stimminhaber von Delegation zu Delegation abnimmt?

Die Frage finde ich so spannend, dass ich mich entschlossen habe, dies mit einfachsten Annahmen zu untersuchen, um ein Gespür dafür zu bekommen, wozu das am Ende führt. Am Ende stehen Abstimmungsergebnisse.

Wer Mathematik schon in der Schule blöd fand, ist eingeladen die Rechnungen zu überspringen.

--Eine einfache Modellrechnung--

Wir gehen in unserem einfachen Modell mal davon aus, dass es unendlich viele User im LQFB gibt und alle User eine globale Delegation haben - die wie im LQFB für den Fall greift, dass sie bei einer Abstimmung nicht selbst teilnehmen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein User bei einer bestimmten Abstimmung selbst teilnimmt sei p = 50% - damit lässt er sie zu q = 50% sausen.

Angenommen jeder Nutzer von Liquid Feedback kennt von jedem anderen Nutzer einen Anteil m = 50% der politischen Meinung und Ausrichtung - d.h. man kennt sich ganz gut. Jeder Nutzer von LQFB wählt nun einen Delegierten danach aus, dass er innerhalb der bekannten politischen Meinung 100% Übereinstimmung feststellt. Super oder? Das ist natürlich möglich, da es ja unendlich viele User gibt und alles schön verteilt ist. Allerdings sind die restlichen 1-m = 50% der politischen Meinung des Delegierten dem Delegierenden leider unbekannt - so gut kennt man sich in der Regel leider doch nicht. Der Einfachheit halber gehen wir davon aus, dass es in diesem unbekannten Teil völlig zufällig ist, ob es eine Übereinstimmung mit dem Delegierenden gibt, oder nicht.

Zusammenfassend heißt das: Ein User A delegiert an B, weil ihm in m = 50% der Fälle bekannt ist, dass beide User übereinstimmen. In 1-m = 50% der Fälle ist es jedoch dem Zufall überlassen, ob A und B übereinstimmen. Man könnte also im Schnitt von ~ 75% identischem und ~ 25% entgegengesetzten Abstimmverhalten von A und B ausgehen, was für eine Delegation kein allzu schlechter Wert ist, nicht wahr?

Unsere Modell-User haben ihre Delegierten also nach bestem Wissen gewählt.

=> Jetzt wird es interessant:
Wir wollen uns anschauen, wie wahrscheinlich es ist, dass die Stimme eines Users so eingesetzt wird, wie es dem Interesse des jeweiligen Users entspricht - denn das wird ja nicht zu 100% gewährleistet sein...

Variante 1:
Stimmen können (entgegen LQFB) nur einmal delegiert werden - aber nicht ein zweites Mal.

  • Fall 1: Der User stimmt selbst ab
    Eintrittswahrscheinlichkeit per Definition: p = 50%
  • Fall 2a: Der erste Delegierte stimmt ab - User-Interesse gewährleistet
    Eintrittswahrscheinlichkeit: q · p · m = 0.5 · 0.5 · 0.5 = 12.5%
  • Fall 2b: Der erste Delegierte stimmt ab - User-Interesse nicht gewährleistet
    Eintrittswahrscheinlichkeit: q · p · (1-m) = 0.5 · 0.5 · 0.5 = 12.5%
  • Fall 3: Die Stimme verfällt (weder User, noch erster Delegierter stimmen ab)
    Eintrittswahrscheinlichkeit: q · q = 0.5 · 0.5 = 25 %

Es ist also in 62.5% der Fälle gewährleistet, dass die Stimme im Interesse des Users eingesetzt wird. In 12.5% der Fälle ist die Stimmabgabe quasi zufällig und mit 25% Wahrscheinlichkeit verfällt die Stimme.

Variante 2:
Stimmen können (wie in LQFB) beliebig oft delegiert werden

  • Fall 1: Der User stimmt selbst ab
    Eintrittswahrscheinlichkeit per Definition: p = 50%
  • Fall 2a: Der erste/zweite/dritte/... Delegierte stimmt ab - User-Interesse gewährleistet
    Eintrittswahrscheinlichkeit: q · p · m = 0.5^3 = 12.5%
    Eintrittswahrscheinlichkeit: q · q · p · m · m = 0.5^5 = 3.1%
    Eintrittswahrscheinlichkeit: q · q · q · p · m · m · m = 0.5^7 = 0.8%
    ...
    SUMME (geometrische Reihe): 12.5% * 4/3 = 16.7% (lässt sich leicht mit Excel prüfen)
  • Fall 2b: User-Interesse nicht gewährleistet
    Da es keinen anderen Fall gibt, berechnet sich die Wahrscheinlichkeit zu 33.3%

Es ist also in 66.7% der Fälle gewährleistet, dass die Stimme im Interesse des Users eingesetzt wird. In 33.3% der Fälle ist die Stimmabgabe quasi zufällig. Die Stimme des Users verfällt in unserem einfachen Modell nicht (endlose Delegations-Schleifen wurden hier mal ignoriert, da es in diesem tollen Modell unendlich viele Piraten gibt ;-)).

Wow, das ist eine Verbesserung!

In 66.7% der Fälle ist also gewährleistet, dass die Stimme im Interesse des Users eingesetzt wird - das sind 4.2%-Punkte mehr als in Variante 1 (gähn). Doch der entscheidende Punkt ist: Dazu kommen 33.3% Zufall - und der Zufall stimmt doch, sagen wir, in jedem zweiten Fall mit dem User-Interesse überein (ich mag 50%-Modelle ;-)).

Damit kommen wir auf eine neue Sicht: In 83.3% der Fälle wird die Stimme eines Users in seinem Interesse eingesetzt - und in 16.7% gegen sein Interesse (verfallen tut sie ja nicht).

Wahnsinn, oder?

Wer Glücksspiele mag, wird sich wohl über die 83.3% freuen und die 16.7% gerne in Kauf nehmen.
In Variante 2 ist der Glücksfaktor 2,7mal so groß wie in Variante 1.

Der Glücksfaktor ist wie das Pixel-Rauschen in einem Bild - mit etwas Glück ist der Pixel richtig.


Die entscheidende Frage ist:

  • Wollen wir ein Bild mit 62.5% korrekter Information, 12.5% Rauschen und 25% verworfener Information? (Variante 1)
  • Oder lieber ein Bild mit 66.7% korrekter Information und 33.3% Rauschen? (Variante 2)
  • Oder lieber ein Bild mit 50% korrekter Information und 50% verworfener Information? (Variante 0: Gar keine Delegation)


Spannend, oder? Aber wie kann man sich das besser vorstellen?

Um das zu veranschaulichen, habe ich mit GIMP eine innovative Simulation einer Bit-Partei durchgeführt und das Piratenlogo mehreren Abstimmungen unterzogen:


  • Jedes Helligkeitsbit des Piratenlogos bekommt bei GIMP ein Stimmrecht und darf über den Helligkeitswert seines Pixels abstimmen.
  • Leider können aber nicht alle Helligkeitsbits an der Abstimmung teilnehmen (zu viel zu tun, die armen)
  • Die Bits übertragen daher ihr Stimmrecht nach bestem Wissen und Gewissen an diejenigen Helligkeitsbits die erfahrungsgemäß auch in allen anderen Bildern immer den selben Wert wie das delegierende Bit angenommen hatten - d.h. sofern die Bits das beurteilen konnten.
Also kann ja gar nichts schiefgehen, oder?


Herausgekommen ist folgendes:





  • Original: Das ist die tatsächliche Meinung der Bit-Partei (es gibt unendlich viele Mitglieder)
  • Variante 0: Das ist das Meinungsbild ohne Delegation (nur die Hälfte hat abgestimmt)
  • Variante 1: Das ist das Meinungsbild mit einfacher Delegation (Die politische Übereinstimmung der Pixel-Delegierten ist nur zu 50% validiert - Rest zufällig)
  • Variante 2: Das ist das Meinungsbild mit mehrfacher Delegation (keine Delegationsschleifen)
Das Rauschen hat was Ästhetisches, oder? Die "Älteren" unter uns kennen das noch vom Analog-Fernsehen.

Ein Fazit? ... Darüber könnte man abstimmen. Die Frage ist nur: Wie viel Glück darfs sein?

Ich freue mich über Kommentare und Anregungen + please spread the word! ;-)

Vielen Dank an den Glücksfaktor, der sich heute freundlicherweise in diesem Helligkeits-gleichverteilten Sample manifestiert hat:

 

Wer gerne mehr zu den Problemen der Delegationsketten lesen möchte, dem empfehle ich: